Vorab: Hier geht es ausnahmsweise um ein Hörspiel. Wenn auch eines, das von einem alten Bekannten und dessen Bruder stammt. Die Rede ist von Thomas Lindner und dessen Bruder Stefan. Erstgenannter dürfte vielen bekannt als Sänger der Mittelalterrockband Schandmaul und der Rockband Weto sein. Während Thomas Lindner sich für die Sprachaufnahmen, Sounds und Produktion verantwortlich zeigt, entwickelt sein Bruder das Konzept und schreibt die Geschichten. Eingesprochen wurde von beiden, teilweise unterstützt von ihrem Vater. Die CD "Die Spinne und andere unheimliche Erzählungen" ist die erste einer Reihe von Kurzgeschichten das die beiden Brüder unter dem Namen Gebrüder Thot auf den Markt bringen. Das ist eigentlich auch naheliegend, schließlich kann man auf die Erfahrung von über 20 Jahren mit Schandmaul und die Zusammenarbeit mit Szenegrößen wie Hohlbein ("GeasTraum" auf der 2011 veröffentlichten CD "Traumtänzer") zurückgreifen. Das von Stefan Lindner eigens gegründete Label "Lindenblatt Records" will in Zukunft neben der erwähnten Reihe auch weitere Hörspielformate veröffentlichen.
Der vorliegende Tonträger enthält insgesamt drei Kurzgeschichten und einen Song der Industrial-Band VorTeX. Das düster-elektronische "Wrench", so der Titel des Bonustracks, besteht unter anderem auch aus Soundpassagen, die im Hörspiel selbst Verwendung gefunden haben und rundet das ganze sehr passend ab.
Bei der ersten Kurzgeschichte "Der schwere Gang" wird einem dann schnell klar, wieso die Herren Lindner hier von Hörspielen für ein erwachsenes Publikum sprechen. Die Sprache ist gerade heraus und stellenweise deutlich expliziter als gewohnt. Die Szenerie wirkt durch die Ich-Erzählperspektive und nicht zuletzt auch durch hörbaren Raucherhusten sehr lebensnah. Die Geschichte selbst spielt im Todestrakt eines Gefängnisses und gibt die Gedanken eines Mörders wieder. Das Opfer der Gewalttat ist der pflegebedürftige Bruder seiner Ex-Frau. In den düsteren Monologen des Protagonisten führt einem die Geschichte erschreckend deutlich die Grenzen menschlichen Mitgefühls vor Augen. Unerwartet, zynisch und böse endet das Ganze und hinterlässt ein Gefühl, das man mit "verstört" und "nachdenklich" wohl am besten beschreiben kann.
In der zweiten Geschichte geht es um die Diskussion zweier Brüder, deren Vater in den Augen des einen Bruders gütlicher König und liebevoller Vater ist, in den Augen des anderen aber ein schrecklicher Despot und Unterdrücker. Präsentiert wird ein hitziges Streitgespräch über den Führungsstil des Monarchen und die Rolle des ausgestoßenen Bruders in der Widerstandsbewegung. Unterlegt sind die Schuldzuweisungen und Anklagen mit einem düsteren Soundteppich, der nach Höhle und Endzeit klingt, gespickt mit den Schreien gepeinigter Menschen. So entfaltet die Erzählung selbst in ihrer kurzen Zeit eine sehr dichte und fesselnde Atmosphäre, auch wenn sie die thematisch vermeintlich harmloseste der vorliegenden Kurzgeschichten darstellt.
Die Titel gebende Geschichte "Die Spinne" unterteilt zwei Erzählstränge in sieben Kapitel, die anfangs kaum zusammen passen wollen. Beide Erzählungen beginnen in der Kindheit, entwickeln sich aber im Erwachsenenalter. Immer abwechselnd pro Kapitel werden einzelne Situationen und die Gefühlswelt der beiden Protagonisten erläutert. Auch diesmal entsteht die Nähe zum Geschehen durch die Ich-Perspektive und die klare, ungeschönte Sprache. Besonders gut gelungen ist dies bei der ersten Geschichte, bei der eine ausgeprägte Spinnenphobie inklusive den dazugehörigen Panikattacken beschrieben wird. Die Spinne und ihre Vermenschlichung als Auslöser der Angst bleiben bis zum Ende Thema. Der zweite Handlungsstrang beginnt mit den ersten zarten Versuchen eines Außenseiters, sich beim weiblichen Geschlecht bemerkbar zu machen. Nachdem diese kolossal scheitern, weicht die anfängliche Schüchternheit aber schnell einer ausgeprägten Machophase. Die in einer sehr deutlichen Art und Weise hervorgebrachte Theorien und Taten dieses Lebensabschnittes dürften das ein oder andere (vornehmlich weibliche) Gemüt erhitzen. Vielleicht enthalten sie aber doch einen Funken Wahrheit?
Die Produktion kann sich nicht nur sehen lassen, sondern übertrifft an Qualität und Authentizität so manches gewöhnliche Hörspiel, auch wenn die Gebrüder Thot selbst bescheiden von unbearbeiteten Sprachaufnahmen und rohem Grundcharakter sprechen.
Das Intro und auch der angehängte Bonustrack lassen erahnen, dass hier ein etwas anderes Hörspiel vorliegt. Folgerichtig ist die CD eindeutig nicht als Einschlaf-Geschichte für Kinder oder Jugendliche, eigentlich nicht einmal für Erwachsene geeignet. Zu greifbar und verstörend werden hier Grenzen aufgezeigt und zu thematisch brisant sind die, wenn auch gut verpackten, Inhalte und Botschaften. Diese CD muss man sich konzentriert anhören und zwischendrin das Gehörte überdenken. Klar ist, dass man solch kontroverses und authentisches Material nicht überall findet, auch wenn das Gesamtbild etwas rau und durch die einzelnen, eher kurzen Erzählungen zerstückelt daherkommt. Für Hörspielfans und Interessierte, die sich gerne einmal auf etwas Neues oder auch Unbequemes einlassen, kann man eine klare Kaufempfehlung aussprechen. In jedem Fall darf man auf weitere Veröffentlichungen des "Familienunternehmen" Lindenblatt Records gespannt sein.