Die Engländer Threshold haben stets das Kunststück fertiggebracht, das nur wenigen Prog-Metal-Acts gelingt: Komplexe Songs, die mit technisch hochwertiger Instrumentalleistung und anspruchsvollen Arrangements dargeboten werden – und trotzdem maximale Eingängigkeit besitzen. Auf dem neuesten Werk „March Of Progress“, dem ersten Studioalbum seit dem sehr starken „Dead Reckoning“ von 2007, erreicht diese Symbiose ihren vorläufigen Höhepunkt; ganz offensichtlich hat diese diesmal etwas längere Pause als sonst Früchte getragen.
Dass der langjährige Frontmann Andrew McDermott die Truppe kurz nach der Veröffentlichung der letzten Langrille verließ, dürften die meisten wissen, ebenso, dass er im letzten Jahr völlig überraschend verstarb (R.I.P.). Inzwischen ist nun wieder Ursänger Damian Wilson dabei und auch wenn er vielleicht eine nicht so markante und kraftvolle Stimme besitzt wie „Mac“, bringt er hier die wohl beste Leistung seiner Karriere. Natürlich scheint es zunächst einmal schwer zu sein, sich an die neue alte Stimme zu gewöhnen, denn immerhin sang Andrew fünf Platten hintereinander ein und Wehmut spielt angesichts dessen, dass der Mann mit 45 Lenzen viel zu jung von uns gegangen ist, ebenfalls eine Rolle, doch gewöhnt man sich letztlich doch recht schnell an Wilsons höheres und weicheres Organ, schon allein, weil das Songmaterial durchgängig von allererster Güte ist.
Der Opener „Ashes“ leitet den 69- beziehungsweise in der limitierten Edition 75-minütigen Reigen von ausnahmslos hervorragenden Kompositionen ein: Klasse Riffs, ein Bombenrefrain, den man auf der Stelle mitsingt, die obligatorischen, handwerklich superben Gitarren- und Keyboardsoli in der Mitte, die das Sahnehäubchen bilden und völlig unaufdringlich und unauffällig in das Stück integriert wurden; ein Paradebeispiel für progressives, aber keineswegs prätentiöses Songwriting. Klar ist sofort, dass die Band wie immer nicht allzu viel verändert hat und man sich hier und da dabei erwischt, wie man denkt, dass man die eine andere Melodieführung oder das ein oder andere Riff schon mal so ähnlich gehört hat (der Groove bei „Return Of The Thought Police“ beispielsweise erinnert ein wenig an „The Ravages Of Time“), doch die Tracks sind insgesamt so schlüssig und fließen derart makellos, dass dies nicht negativ auffällt.
Dazu agiert die Band ohnehin zu vielseitig: So warten „Liberty, Complacency, Dependency“ und „Coda“ mit ziemlich unterschiedlichen Parts auf, die allerdings genial und ohne dass der Hörer mit dicken Fragezeichen auf der Stirn zurückgelassen würde zusammengebastelt wurden – hier gibt es haufenweise grandiose Riffs und Melodien, die die Stücke leicht zugänglich machen, und dennoch solch großartige, aufregende Spannungsbögen, dass man definitiv auch nach mehreren Rotationen noch neue Details entdeckt. Abnutzungserscheinungen? Fehlanzeige. Mit „That’s Why We Came“ hat das Sextett außerdem eine komplett kitschfreie (Halb-)Ballade in petto, bei „The Hours“ glänzt es mit fantastischen Gesangsarrangements und pendelt in „Don’t Look Down“ zwischen metallischen Riffs und psychedelisch angehauchten Sequenzen. In Form von „Staring At The Sun“ steht zudem eine kurze Nummer zu Buche, deren Chorus sich selbst beim größten Prog-Muffel sofort festsetzen dürfte.
Und als wäre das alles noch nicht genug, hat man sich das Beste zum Schluss aufgehoben: „Rubicon“, der mit zehneinhalb Minuten längste Song des Albums, ist ein Epos vor dem Herrn, das völlig problemlos auf einer Stufe mit sämtlichen Longtracks der Vergangenheit steht; allein das majestätische Finale sorgt für einen Gänsehautschauer nach dem anderen. Dass das Teil über den zweistelligen Minutenbereich hinausgeht, fällt übrigens kein bisschen auf, denn genau wie bei den vorigen Kompositionen gilt auch hier, dass gutes Songwriting das Maß der Dinge ist.
Etwas anderes als die Höchstnote bei diesem Meisterwerk zu zücken, verbietet sich eigentlich. 2012 hat schon einige tolle Alben hervorgebracht und sicherlich werden auch noch einige gute folgen, doch „March Of Progress“ zu überbieten scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Ganz großes Kino und jeder Fan sollte unbedingt ein, zwei Euronen mehr investieren und zur limitierten Auflage greifen, da es der Bonustrack „Divinity“ ebenfalls ganz schön in sich hat. Die erneut von Gitarrist Karl Groom und Keyboarder Richard West übernommene Produktion mag manch einem etwas zu poliert erscheinen, doch von Sterilität kann hier nicht die Rede sein. Jedenfalls haben sich ein und eine Viertelstunde Musik selten kurzweiliger präsentiert – Anspieltipps sind daher überflüssig.