Dass Threshold Anfang des Jahres ihren Sänger austauschten, dürfte wohl eines der meistdiskutierten und überraschendsten Themen in der Hartwurstwelt anno 2017 gewesen sein, wirkte Damian Wilson doch neben der unvergleichlichen Stimme charismatisch und fanfreundlich wie kaum ein zweiter Frontmann. Angesichts dessen ging die Meldung, dass auch Gitarrist Pete Morten seine Koffer packte, total unter. Kaum vorstellbar jedenfalls, dass einer wie Damian Wilson Ärger macht, aber komplett friedlich lief auch im Hause dieser so harmonisch wirkenden Engländer wohl nicht alles ab, ansonsten würde dieser Split nicht den geringsten Sinn ergeben.
Denn Fakt ist, um das gleich vorweg zu klären: Glynn Morgan kann Damian Wilson an stimmlichem Charisma und an Durchschlagskraft nicht das Wasser reichen. Doch obwohl sich auch meinereiner anfangs sehr schwer tat, kann man sich an den neuen alten Sänger gewöhnen (Fans wissen natürlich, dass Glynn bereits auf dem zweiten Threshold-Album „Psychedelicatessen“ zu hören war – wer wann wo Sänger bei der Truppe war, ist gar nicht mal so leicht zu überblicken und fast schon eine Wissenschaft für sich). Man muss ihm zugutehalten, dass er alles gibt und definitiv Bock auf die Band und das Album hat, das ist zu jeder Sekunde spürbar.
Man sollte ihm also eine Chance geben, zumal er ganz bestimmt kein schlechter Sänger ist, problematisch ist halt nur, dass hin und wieder herauszuhören ist, dass die Songs (oder wenigstens ein Großteil davon) wohl auf Wilson zugeschnitten waren. Der vorab veröffentlichte Longtrack „Lost In Translation“ jedenfalls war ziemlich im Stil der letzten Alben gehalten und da beschlich einen so manches Mal das Gefühl, dass Glynn in den Höhen schon ganz schön kämpfen muss.
Davon abgesehen ist das Stück eines der definitiven Highlights dieses Konzeptalbums, in dem es sicher nicht ums Auenland geht (Threshold sind ja nicht Blind Guardian), sondern, wie die Band es formuliert, „um ein Volk, das seinen Platz in der Welt sucht“. Und das, obwohl – wie so häufig bei dieser Formation – immer wieder Passagen auftauchen, die man so ähnlich oder gar genauso vorher schon mal gehört hat. Beispielsweise bei Karl Grooms Solo am Ende der Nummer; diese Schlenker verwendet er doch sehr gerne. Auch im zweiten Track mit Überlänge, dem fast zwölfminütigen „The Man Who Saw Through Time“ findet sich hier und da Altbekanntes wieder, so fühlt man sich streckenweise deutlich an „The Hours“ von „March Of Progress“ erinnert.
Das Verrückte dabei ist: Es stört schlichtweg nicht. Immer wieder gerät man ins Grübeln darüber, wie diese Jungs es bloß fertigbringen, sich auffällig oft selbst zu zitieren und man es trotzdem nach allen Regeln der Kunst abfeiert. Es muss wohl einfach das nach wie vor untrügliche Gespür für Hooklines und allgemein das songschreiberische Niveau sein. Gerade „The Man Who Saw Through Time“ entpuppt sich nach ein paar Durchläufen als überragende Nummer mit Melodien zum Anbeten, die vielen Parts setzen sich nach einiger Zeit völlig logisch zusammen, und so komplex das Ganze anfangs erscheint, singt man es alsbald aus voller Kehle mit.
Doch das sind eben Threshold: Hat man die Scheibe einmal verinnerlicht, tauchen jeden Tag irgendwelche anderen Songs auf, die einem im Kopf herumspuken und die dann sofort gehört werden wollen, was mitunter nicht so einfach ist, wenn man sich gerade auf der Arbeit befindet. So gehört auch der Opener „Small Dark Lines“ zu der Kategorie „ganz fiese Ohrwürmer“: Klar, auch hier ist das Mainriff weit davon entfernt, einen Innovationspreis zu gewinnen, aber dieser Refrain – einfach unfassbar, man denkt sich, eigentlich kann es gar nicht sein, dass die Kerle noch Ideen für eingängige Refrains haben, das müsste ja irgendwann mal aufgebraucht sein.
Aber sie strafen einen Lügen, wie auch das fantastische „Trust The Process“ beweist, das mit zunächst melancholisch angehauchten, packenden Gesangsmelodien in der Strophe daherkommt, um dann in einem dramatischen Chorus zu gipfeln, bei dem Glynn Morgan sich mehr als respektabel schlägt. Oder auch die Halbballade „Stars And Satellites“, die ein wenig an „Staring At The Sun“ erinnert und mit schöner Dynamik glänzen kann, und die drei „The Shire“-Songs, die das Konzept zusammenhalten, besitzen ebenfalls äußerst eingängige Motive, welche auch an anderen Stellen der Platte wieder auftauchen. Solche Kompositionsweise muss beeindrucken und schon aus diesen Gründen stellt „Legends Of The Shires“ ein äußerst ambitioniertes Werk dar.
Alles in allem ist den Engländern auch wieder ein starkes Stück Musik geglückt, wenngleich es sich sicherlich nicht um eine Zehn-Punkte-Platte handelt, zu der mancher sie gerne machen würde. Die drei Zehner in der Threshold-Discographie sind für meine Begriffe „Hypothetical“, „Subsurface“ und „March Of Progress“ und in der zweiten Hälfte schwächelt der vorliegende Doppeldecker dann doch ein wenig. „Snowblind“ kommt zwar sehr aufwühlend und mitreißend daher (hier klingt Morgan rauer, fast wie Russell Allen, ohne dieselbe Power versteht sich), doch Songs wie „Subliminal Freeways“ oder „State Of Independence“ erreichen nicht ganz die Qualität des Materials des ersten Rundlings. Trotzdem ohne Frage ein sehr gutes Album, das mit „Swallowed“ hübsch ruhig ausklingt und das man als Threshold-Fan haben muss. Trotz des anderen Sängers. Wie erwähnt: Gebt ihm eine Chance!