„Den Sound des neuen Albums zu beschreiben fällt mir einerseits schwer, andererseits auch leicht. Leicht, weil es einfach nach Enslaved klingt, was immer das auch heißen mag. Schwer, weil es unglaublich vielschichtig und mit unterschiedlichen Schwerpunkten daherkommt. Ich hab das Gefühl, dass das Album tiefgängiger und komplexer als alles ist, was wir vorher gemacht haben.“
Große Worte, die Enslaved-Gitarrist Ivar Bjørnson da im Vorfeld für das neue Album „RIITIIR“ übrig hatte, doch sie sind absolut zutreffend und wäre man als Schreiberling nicht in der Pflicht, noch ein wenig mehr ins Detail zu gehen, könnte man das glatt so kurz und bündig einfach stehen lassen. Die Vielschichtigkeit von „RIITIIR“ zu beschreiben fällt deswegen nicht leicht, weil die Veränderungen zum Vorgänger „Axioma Ethica Odini“ schon beim ersten Durchlauf sehr offenkundig sind, man aber trotzdem immer hört – wie Bjørnson eben zurecht sagte –, dass da Enslaved musizieren; dafür sorgt die Atmosphäre, das Gitarrenspiel und selbstverständlich Grutle Kjellsons unverkennbares Krächzorgan (für mich einer der geilsten Black-Metal-Schreihälse) im Wechselspiel mit den cleanen Vocals von Keyboarder Herbrand Larsen. Von letzteren steht diesmal deutlich mehr zu Buche, was die deutlichste Veränderung markiert: Der Tastenmann hat am Mikrofon so viel zu tun wie noch nie seit er in der Band ist, wodurch das Ganze sehr abwechslungsreich herüberkommt, denn natürlich (wie man bei solch exquisiten Musikern aber auch nicht anders erwartet) sind die Wechsel genau überlegt und effektiv eingesetzt. Hier beweisen Enslaved Arrangement-technisch ein feines Gespür, mal abgesehen davon, dass sie sich einige traumhafte Gesangslinien aus dem Ärmel geschüttelt haben.
Der häufigere Einsatz klaren Gesangs lässt vielleicht so manchen vermuten, dass die Band eventuell etwas ruhiger geworden wäre – doch weit gefehlt. Tatsächlich gibt es immer noch jede Menge schwarzmetallisch gefärbte Riffs und so manch heftige Blastbeat-Attacke. Das chaotische Intro des Openers „Thoughts Like Hammers“, bei dem munter die Instrumente malträtiert werden, lässt jeden Zweifler sofort aus dem Sessel kippen und macht umgehend klar, dass Enslaved ganz bestimmt nicht vorhaben, einen auf Opeth zu machen. Das gnadenlose Getrümmer geht schließlich in ein fies schleppendes, doomiges Riff über, schwer wie eine Dampfwalze und untermalt von einem sich die Lunge auskotzenden Kjellson, bevor erstmals der klare Gesang in einer Siebziger-Prog-Gedächtnispassage mit Orgelsounds zum Einsatz gebracht wird. Später zieht das Tempo an und der Song wird aggressiver, doch der völlig unerwartete Einsatz einer einsamen cleanen Gitarre kontrastiert die Passage auf extreme, doch genauso geniale Weise.
Allein in diesem neuneinhalb Minuten langen ersten Track legen Enslaved eine selten dargebotene Dynamik an den Tag, die einfach nur wahnsinnig beeindruckt. Noch komplexeres Songwriting, noch mehr Finessen, noch mehr stilistische Ausrisse (zum Beispiel in Richtung Postrock), doch trotzdem immer mit dem Blick für große Melodien und nie ins Wirre abdriftend. Völlig klar, dass man sich in dieses Album reinhören muss, doch es wächst und wächst mit jedem Durchlauf und angesichts der himmelhoch aufstrebenden Keyboard-Klangkathedralen und der fantastischen Gitarren sind ein paar einsame Stunden mit Kopfhörer selbsterklärend.
Alsbald entpuppen sich dann sämtliche Songs als absolute Juwelen mit zum Teil sagenhaften Aufbauten, faszinierenden Einfällen und glänzenden Hooks: Vom mit herrlichen Melodien versehenen „Death In The Eyes Of Dawn“ über das treibende „Veilburner“, den dramatischen, alles vernichtenden Titeltrack, das sich irre steigernde, mit einem erhabenen Refrain ausgestattete Neunminutenepos „Roots Of The Mountain“, die großartig stampfende, Hit-verdächtige Hymne „Materal“, die unfassbar genial zwischen garstigem Riffing und melodischen Momenten pendelt, bis zu „Storm Of Memories“ (dessen Anfang mit den schnörkeligen Gitarren, welche die auf dem Bass gespielte Melodie umrahmen, tatsächlich wie ein Sturm wirkt, sich im weiteren Verlauf allerdings teilweise zu einem musikalischen Tornado aufschwingt) und der Elf-Minuten-Abschlussnummer „Forsaken“, bei der das Quintett verstärkt mit psychedelischen Elementen experimentiert.
Für mich steht inzwischen fest, dass es sich bei „RIITIIR“ – das neben großartiger Musik auch noch ein ziemlich cooles Artwork und eine exzellente Produktion bietet – um ein Meisterwerk handelt, schwer zu sagen, ob besser als der Vorgänger oder nicht, doch da sich die Alben ziemlich unterscheiden, ist das auch völlig wumpe. Fest steht in jedem Fall, dass sich Enslaved kontinuierlich weiterentwickeln und Ivar Bjørnson nicht zu viel versprochen hat. Eigentlich unglaublich; wenn man denkt, was soll da noch Neues, Gleichwertiges oder gar Besseres kommen (gerade nach dem grandiosen „Axioma Ethica Odini“), tanzen diese fünf Norweger an und machen einen erneut sprachlos. Chapeau!